Die sogenannten Irren waren nicht immer ein gesellschaftliches Problem. Im Mittelalter wurden sie teilweise sogar derart solidarisch bedacht, daß man Narrenfeste veranstaltete, die symbolisierten, daß das verrückte eine allen Menschen eigene zweite Seite des Ich ist. Ein Relikt dieser Feste ist der Karneval.
Erst in der Renaissance (15. - 16. Jahrhundert) wurden die "Unnormalen" zum Problem der aufstrebenden Städte, die sauber und gepflegt erscheinen wollten, und in der Aufklärung (16. - 17. Jahrhundert) schließlich zum offensichtlichen Widerspruch gegen die Prinzipien der Vernunft. Das Bürgertum versuchte jetzt, die "Unvernünftigen" umzuerziehen (z.B. durch das Militär als der "Schule der Nation") und vernünftig zu machen. Wer trotzdem allen Moralvorstellungen widersprach, wurde aus der Gesellschaft herausgenommen und zwangsweise in den dieser Zeit entstandenen Zucht-, Arbeits-, Korrektions-, Toll- und Verwahrungshäusern untergebracht, deren Zustand unbeschreiblich elend war. Tobende Irre konnte man gegen Bezahlung auf Jahrmärkten und in Zoos besichtigen. Dies ist die Kehrseite der Aufklärung mit ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, in deren Tradition wir heute noch stehen.
Die Industrialisierung führte dann zu einer Spezialisierung der oben beschriebenen Häuser in Gefängnisse, Waisenhäuser, Irrenanstalten, Altersheime, Idiotenanstalten und Arbeitshäuser, die jeweils für die arme Bevölkerung zuständig waren.
Die Romantik stellte in der Folge eine Gegenbewegung zur industriellen Rationalisierung aller Lebensbereiche dar. Die Menschen waren fasziniert von den Schattenseiten des Menschen. So wendete man sich den psychisch Kranken zu, was einerseits die Geburt der Psychiatrie als Wissenschaft war, andererseits dazu führte, daß Irrenanstalten mit Vorliebe auf dem Land gebaut wurden, um die armen Kranken der Heilkraft der Natur zuzuführen. Interessant scheint mir der Satz des Engländers BATTIE (1704-1776): "Management did much more than medicine". Die Beeinflussung der Lebensumstände der Kranken half mehr als Medikamente.
In Deutschland schrieb W. GRIESINGER im zeitlichen Zusammenhang mit der Revolution von 1848 die "Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten", in der er unter anderem die Idee von "Stadtasylen" entwickelte: kleine stationäre Einheiten in der Gemeinde, Hausbesuche, Beachtung der Lebensbedingungen, ambulante Nachsorge. Er forderte vor mehr als 150 Jahren als erster Gemeindepsychiatrie.
Anfang des 19. Jahrhunderts war es durchaus noch nicht klar, ob die Psychiatrie eine medizinische oder eine philosophische Disziplin sei. Verschiedene Zusammenhänge führten dazu, daß sie am Ende des 19. Jahrhunderts der Biomedizin zugeschrieben wurde. So waren schließlich alle Anstalten in "medizinischer Hand", was für die Patienten positive und negative Konsequenzen hatte. Diese Entwicklung führte nun zu umfangreichen biomedizinischen Klassifizierungen und Diagnosen von psychischen Krankheiten der AnstaltsinsassInnen sowie zur Identifizierung von erblichen Zusammenhängen. Im Zusammenhang mit den Vernunftsorientierten Anforderungen der Industriegesellschaft fordern einige Psychiater die "Befreiung von unnützen 'Ballastexistenzen', das heißt die Vernichtung lebensunwerten Lebens". Hiermit waren solche Patienten gemeint, für die die Medizin keine Therapie bereithielt, die sozusagen als unheilbar krank galten.
Aus dem Wunsch nach einer Gesellschaft ohne psychische Leiden wird ein gesellschaftstherapeutisches Ziel, welches mit den Nazis im Sinne der "medizinischen Endlösung der sozialen Frage" konform ging: alle Menschen, die nicht produktiv sind, sollten medizinisch selektiert, behandelt und bei Unverbesserlichkeit medizinisch beseitigt werden. So waren die Massentötungen von Insassen der psychiatrischen Anstalten der Probelauf für die Organisation der Konzentrationslager.
Das Töten von psychiatrischen Patienten richtete sich ausschließlich gegen aus medizinischer Sicht Unheilbare, die die therapeutische Ohnmacht deutlich machten und wegen ihrer medizinischen Sinnlosigkeit und gesellschaftlichen Nutzlosigkeit beseitigt wurden. Für die akut Kranken hingegen wollte man alles erdenkliche tun, nach dem Motto: "radikal alles für die Heilbaren, radikal nichts für die Unheilbaren." (DÖRNER, 1996, S.472)
Erst im 20. Jahrhundert kam mit der Psychoanalyse wieder eine Bewegung in die Psychiatrie, die über die rein körperliche Sichtweise hinausging. Darüberhinaus kam es auch wieder zu einer Annäherung von Psychiatrie und Philosophie, deren Einflüße u.a. maßgebend für die Reformvorstellungen der Psychiatrieenquête waren.
DÖRNER schlußfolgert, daß die größten Probleme dadurch entstanden sind, daß jeweils ein Absolutheitsanspruch einer bestimmten Sichtweise geltend gemacht wird. Das ist auch heute zu beobachten, wenn auch im Konkurrenzkampf verschiedener Gruppierungen: Psychologen, Psychoanalytiker, Soziologen, Sozialpsychiater und seit neustem auch "Versorgungstechnokraten", die für jede Gruppe von Kranken perfektionistisch ein eigenes Versorgungssystem fordert, was das Ende jeder Selbsthilfe bedeuten würde.
Nach dem zweiten Weltkrieg war die Geschichte der Psychiatrie zunächst durch Ausgrenzung und Tabuisierung geprägt. Die "Verrückten" wurden in Großkliniken "auf der grünen Wiese" verbracht und möglichst für die Gesellschaft unsichtbar gemacht (Intramurale Versorgung). Die Versorgung der Patienten war zunehmend nicht mehr zu gewährleisten, weil die Kliniken unter einem wachsenden Aufnahmedruck standen und kaum Möglichkeiten hatten, die Patienten wieder zu entlassen. Innerhalb der Kliniken lag das an der immer weiter abgesunkenen materiellen und personellen Ausstattung der Häuser. Durchschnittsliegezeiten von 25 Jahren waren keine Seltenheit.
Eine umfassende Versorgung von psychisch Kranken an ihrem Wohnort war wegen fehlender Strukturen kaum möglich. Selbst Basisvoraussetzungen wie ein ausreichendes Netz von niedergelassenen Nervenärzten war nicht gegeben. Allgemeinärzte, die die Versorgung der psychiatrisch Kranken in 40% (ARNOLD / PAFFRATH; 97, S.43) mitübernahmen, verfügten in der Regel nicht über ein ausreichendes Fachwissen bezüglich der besonderen Bedürfnisse dieser Klientel. Die nicht bedarfsgerechte Ausrichtung des Systems (hochschwellige Angebote) und das mangelhafte Ineinandergreifen von Strukturen führten bei entlassenen Patienten meist zur raschen Wiederaufnahme.
Die gesellschaftliche Tabuisierung wurde Ende der sechziger Jahre aufgebrochen; die unzulänglichen Zustände wurden von der Presse aufgegriffen und gesellschaftlich thematisiert. Das führte dazu, daß sich die Politik unter einem Handlungsbedarf sah. Die besonderen Bedingungen der Psychiatrie begünstigten zudem einen Veränderungsprozeß: Kommunale und staatliche Kosten- und Leistungsträger hatten einen wesentlichen Einfluß, anders als im sonstigen Gesundheitssystem, das weitgehend durch Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen dominiert wird. So konnten in großem Umfang politische Planungsprozeße in Gang gebracht werden. Kernpunkte dieser Veränderungen waren: