2 Die Objektbeziehungstheorie Kernbergs

Zum besseren Verständnis von Kernbergs Ausführungen wollen wir eine kleine Abhandlung über wesentliche Inhalte der Objektbeziehungstheorie voranstellen.

Freud's Ein-Personen-Psychologie provozierte die Kritik, daß die Betrachtung und Behandlung eines Patienten als Einzelperson eine wissenschaftliche Reduktion ist, und daß bei einer so isolierten Betrachtung wesentliche Phänomene der zwischenmenschlichen Beziehungen nicht berücksichtigt werden. Nach der Entwicklung einer interpersonellen Objektbeziehungstheorie hat sich eine Ich-psychologische Sichtweise herausgebildet, der auch Kernberg angehört. Sie hat einen vermittelnden Standpunkt.

Diese leugnet nicht den richtigen Einfluß von Triebimpulsen. Jedoch behauptet sie, daß nicht die Dominanz libidinöser und aggressiver Impulse ausschlaggebend für das Verstehen des Menschlichen ist, sondern seine zutiefst soziale Natur. Das heißt, daß der Mensch nur durch die Beziehung zu anderen Personen zum Menschen wird. Seine zentrale Motivation ist also das Knüpfen von sozialen Kontakten, das Herstellen von (guten) Beziehungen zwischen dem Selbst und Objekten.

Kernbergs Auffassung ist, daß diese Beziehungen alle unter dem Einfluß von Affekten stehen, welches sozusagen die Linse ist, durch die die Kontakte zustande kommen und mit der die Objekte in der Psyche abgebildet werden (=Objektrepräsentanzen). Auch das Selbst wird unter dem Einfluß von Affekten wahrgenommen. Die dyadischen Gegensätzlichkeiten der Selbst- und Objektrepräsentanzen, die unter dem Einfluß von Affekten (=Abkömmlingen der Primärtriebe) zustandekommen, sind die Bausteine dessen, was schließlich das ES, das ICH und das ÜBER-ICH ausmacht.

Abbildung 1: Selbst- und Objektwahrnehmung unter dem Einfluß von Affekten.

Wie aus dieser Abbildung deutlich werden soll, spielen Begriffe wie Wahrnehmung und Abbildung eine wichtige Rolle. So ist es auch möglich, daß intrapsychische Konflikte eines Individuums durch Übertragung / Projektion auf reale Beziehungen anderer Individuen in seiner Umgebung übertragen werden.

  Traditionelle Ich-Psychologie Ich-psychologische Objektbeziehungstheorie Interpersonelle Objektbeziehungstheorie
Strukturtheorie Freud's Unterteilung der intrapsychischen Struktur in ES - ICH - ÜBER-ICH. Ödipuskomplex = vorherrschende Konfliktkonstellation. Frühe dyadische Beziehung mit Mutter unter Einwirkung von Aggression und Libido, darauf folgen dynamische Beziehungen zwischen (dyadischen) Selbst- und Objektrepräsentanzen (real und phantasiert). Psychische Struktur = früh internalisierte Objektbeziehungen (werden lebenslang reaktiviert).
Motivations-
theorie
Duale Triebtheorie: Aggression und Libido (biologisch begründet) sowie Abkömmlinge sind im ES lokalisiert. Diese binden sich an Objekte und geraten mit ICH und ÜBER-ICH in Konflikte (Impulsabwehr). Freuds duale Triebtheorie, jedoch sind Triebe unlösbar mit Objektbeziehungen verknüpft. Triebabkömmlinge = Affekte = "Lösung", in der Selbst und Objekt miteinander in Beziehung treten (bzw. "Treibstoff", der bestimmt, wie diese Beziehung abläuft). Zwischenmenschliche Beziehungen = zentrales Motivationssystem. Nicht Triebe, sondern Suche nach guten Objektbeziehungen (Mutter-Eltern-andere).